Ukraine-Krieg: „Es gibt keine europäische Friedensordnung ohne Russland“

Vergangenen Donnerstag referierte Andreas Zumach auf Einladung von seemoz e.V. vor rund 50 Interessierten über die derzeitige Lage in der Ukraine. Der mehrfach ausgezeichnete Journalist, Buchautor und Experte für internationale Konflikte und Beziehungen ging folgenden Fragen nach: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen? Gibt es dennoch Chancen für eine europäische Friedensordnung? Wie geht es weiter? Und: Was können wir überhaupt tun?

Bevor Andreas Zumach seine Sicht der Dinge anbot, erklärte er in aller Deutlichkeit, dass Putins Einfall in die Ukraine „durch nichts zu rechtfertigen“ sei und ohne Wenn und Aber gegen das Völkerrecht verstoße. Das war und ist dem Referenten wichtig, denn mehrmals schon wurde versucht, ihn in die Ecke der „Putin-Versteher“ zu drängen, und da gehöre er einfach nicht hin.

Mögliche Szenarien für ein Ende des Krieges

Nach Auffassung von Zumach dürfe man derzeit nicht damit rechnen, dass der innere Machtzirkel um Putin (etwa sechs ehemalige KGB-Offiziere) daran denke, den Despoten zu entmachten. Auch ein Eingreifen der mächtigen Oligarchen, die um ihre internationalen Geschäfte bangen, sei eher unwahrscheinlich, aber, sollte sich die Situation weiterhin verschärfen, „auch nicht völlig ausgeschlossen“. Ein Putsch aus der Bevölkerung? „Schwer vorstellbar“, denn dafür gebe es nicht ausreichend „zivilgesellschaftliche Handlungskräfte“, sprich beispielsweise eine freie Presse und Meinungsfreiheit. Kein Wunder also, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung, rund um die Uhr ausgesetzt einer irreführenden Propaganda, die „operative Maßnahme“ in der Ukraine befürworte.

Auch dem „Tyrannenmord“ kann Zumach nichts abgewinnen. „Das“, so der Referent, „sollte man öffentlich gar nicht erst diskutieren, denn – ob uns das gefällt oder nicht: Putin wird in der aktuellen Situation vorerst Gesprächspartner bleiben, um endlich den Krieg zu beenden“. Klar ist für Zumach aber auch: „Putins Verbrechen verjähren nicht“, momentan sei es aber eher unklug, Putin „völlig zu dämonisieren“. Und: „Der Westen muss seine historische Hybris gegenüber Russland ablegen“, und eine für den russischen Machthaber halbwegs „gesichtswahrende Exit-Strategie“ müsse her, so bitter das auch klingen mag.

Anzeichen dafür zeichneten sich schemenhaft ab, wie sie auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi kürzlich schon angedeutet habe: Neutralität der Ukraine nach dem finnischen Modell – Verzicht auf einen NATO-Beitritt – Autonomie für die Krim und den Donbas. Wäre eine Kapitulation der Ukraine vorstellbar? „Ausgeschlossen“, sagt Zumach, „darauf werden sich die UkrainerInnen nicht einlassen, Putin wird die Ukraine nie unter Kontrolle bekommen“. Aber auch ein militärisches Patt würde nur zu einem „noch viel höherem Blutzoll“ führen, und daran könne niemandem gelegen sein. Zumach ist dennoch davon überzeugt, dass der Ukraine-Krieg zumindest mittelfristig „der Anfang vom Ende Putins“ sei.

Was hat es mit der „Zeitenwende“ auf sich?

Schon kurz nach Putins Überfall auf die Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz, 100 Milliarden Euro für eine Aufrüstung der Bundeswehr zur Verfügung zu stellen, und sprach von einer „Zeitenwende“. Diese jedoch, so Zumach, „gibt es nicht und ist ein ideologischer Kampfbegriff“. Somit werde der aktuelle Krieg „missbraucht, um noch weiter aufzurüsten“. Das sei der falsche Weg und führe nur zu einer weiteren Verschärfung der Lage, denn „kein Krieg hat jemals ein Problem gelöst“. Im Gegenteil.

Man solle sich da übrigens nichts vormachen, denn die Osterweiterung der NATO sei selbstverständlich ein verhängnisvoller Fehler gewesen. Dabei verweist Zumach unter anderem auf den amerikanischen Diplomaten und Historiker George F. Kennan, einem der ersten Warner von internationalem Rang, der schon 1997 in der „New York Times“ erklärte, dass die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands auszuweiten, der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg wäre. Auch die allseits kursierende Behauptung, gegenüber Russland habe es nie das Versprechen gegeben, die NATO Richtung Osten nicht zu erweitern, ist schlichtweg falsch und vielfach widerlegt. Dieser Meinung waren und sind auch andere, denen man keineswegs eine Nähe zu Putin unterstellen kann. Eine anzustrebende europäische Friedensordnung aber, da ist sich Zumach sicher, „geht nur mit Russland“.

Was können wir nun tun?

Kommt es nicht bald zu einem Ende dieses Krieges, werden noch weitere Millionen UkrainerInnen Richtung Westen fliehen, so die düstere Prognose. Wo sollten sie auch sonst hin aufgrund der massiven Zerstörungen in ihrem Land? Umgehende Hilfe für die Flüchtlinge sei deshalb das Gebot der Stunde, fordert Zumach eindrücklich. Die Hilfsbereitschaft unserer Zivilgesellschaft dürfe aber nicht überstrapaziert werden, so sein Appell. „Die Kommunen müssen finanziell von der Bundesregierung unterstützt werden, denn damit kann man sie nicht alleine lassen, da muss politischer Druck auf Berlin gemacht werden, sonst kippt die Stimmung ganz schnell“. Schon jetzt seien hierzulande über 400 strafrechtlich relevante Aktionen gegen russisch-stämmige BundesbürgerInnen und Einrichtungen zu verzeichnen gewesen, Tendenz steigend. „Da müssen wir ein wachsames Auge drauf haben und auch dafür sorgen, dass die überwiegend gut ausgebildeten jungen Frauen mit ihren Kindern nicht Kriminellen in die Hände fallen“.

Nach zweieinhalb Stunden Vortrag und lebendiger Debatte endete ein Abend, der vielen ZuhörerInnen wohl noch länger in Erinnerung bleiben wird. Freie und geschliffene Rede, unterlegt mit harten Fakten, kluger Analyse und einem scharfen Blick auf alle Seiten des aktuellen Geschehens. So einen wie Andreas Zumach wünscht man sich insgeheim für die täglichen TV-Debatten bei Will, Illner, Maischberger und Lanz, bei denen – mit wenigen Ausnahmen – eher ausgemusterte Generäle und oft nur oberflächlich informierte Bellizisten und MedienvertreterInnen ihre zunehmend dumpfen Trommeln schlagen.

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