Im Tal der Glückseligen

Im Tal der Glückseligen

Verena H. und ihr Mann Hubert, beide beheimatet in einer kleinen Gemeinde im Thurgau, sind überzeugte Esoteriker. Sie glauben an Reinkarnation, an feinstoffliche Wesen und daran, dass sie bald auf Zeitreisen gehen werden. In Kürze wollen sie sich wieder Richtung Piemont aufmachen. Denn nur dort, im Hinterland von Turin, lebten die Menschen noch im Einklang mit sich und der Natur. Davon sind die beiden zutiefst überzeugt.

Im idyllischen Tal „Valchiusella“, nordwestlich der italienischen Großstadt Turin, hat sich eine esoterisch- okkulte Gemeinschaft nieder gelassen, der sich auch immer mehr Schweizer und Deutsche anschliessen. Die Gruppe der „Damanhurianer“ gilt als der größte expandierende Eso-Zirkel Europas. Damanhur heißt „Stadt des Lichts“ und ist nach einer alten, ägyptischen Legende benannt. Etwa 900 Frauen, Männer und Kinder leben hier, verstreut über ein Gelände von rund 200 Hektar Land. Sie betreiben eine eigene Schule, mehrere handwerkliche und landwirtschaftliche Betriebe, haben eine eigene Währung, den „Credito“ und geben eine eigene Zeitung heraus.

Ein Eldorado für Esoteriker

Vor dem Eingangsbüro der „Nazione di Damanhur“ geht es zu wie in einem Bienenstock. Besucher aus ganz Europa sind hier. In einer Einkaufspassage bieten die Damanhurianer Kupferschmuck gegen Verspannungen, Migräne, Depressionen, Unfruchtbarkeit oder Schlafstörungen an. Die Gruppe, so die Erklärung in einem Informationsblatt, versteht ihr irdisches Dasein als ständige Meditation. Alle Bewohner haben sich Namen aus dem Tier- und Pflanzenreich gegeben und träumen von ständiger Wiedergeburt. Der überwiegende Teil der Gemeinschaft lebt und arbeitet auf Damanhur-Gelände, meistens in landwirtschaftlichen Betrieben. Finanziell scheint es den Wanderern zwischen den Welten gut zu gehen, regelmässig wird neues Land dazu gekauft und bewirtschaftet. Angeblich sind die Betriebe genossenschaftlich organisiert, aber Auskünfte über die finanziellen Verhältnisse werden schroff abgelehnt. „Fragt Falco“, heisst es.

Über allem schwebt der Falke

Oberto Airaudi (57) ist der Gründer und geistige Leiter der Damanhurianer. Seine Anhänger nennen ihn „Falco“, den Falken. Anfang der siebziger Jahre ist Falco mit einigen Gesinnungsgenossen ins Valchiusella gezogen, „um etwas vollkommen Neues aufzubauen“. Nach außen hin gibt sich freundlich und moderat, aber beim Gespräch mit seinen Jüngern verschärft sich der Ton deutlich, wird knapp und befehlsartig. Schon immer, erzählt er, habe er davon geträumt, den „Tempel der Menschheit“ aufzubauen, das geistige Kernstück der Damanhurianer. Gegen eine stattliche Geldsumme übernimmt Falco gerne persönlich die Führung durch sein Heiligtum, über das im Tal so viel gemunkelt wird.
Am nächsten Tag werden wir mit dem Auto auf einen Berg gefahren. Wir halten vor einem Haus. Ein schmiedeeisernes Tor öffnet sich automatisch. Wir stehen auf einem kleinen Vorplatz, aus dem Berginneren dringen dumpfe, hämmernde Geräusche. Plötzlich taucht ein knallgelber Hubschrauber auf und setzt zur Landung an. Falco steigt aus, die Reise in seine Traumwelt kann beginnen.

Feinstoffliche Energien für den Weltfrieden

Durch eine unscheinbare Holztüre führt der Weg in einen langen Gang, der beidseitig mit ägyptischen Symbolen verziert ist. „Das ist der Scheintempel“, erklärt Falco, „den haben wir gebaut, um die Öffentlichkeit vom eigentlichen Tempel abzulenken“. Vor einer massiven Felswand holt er plötzlich eine Fernbedienung aus seiner Hosentasche und drückt auf den Knopf. Die Wand öffnet sich langsam und gibt über eine lange Steintreppe den Weg frei ins Innere des Berges. Die Wände, in weiches Kunstlicht getaucht, sind bemalt mit esoterischen Schriftzeichen und bunten Farbkompositionen – eine bunte Mischung aus wenig Kunst und viel Kitsch.

Durch ein Labyrinth von verschachtelten, kilometerlangen Gängen führt der Weg zum „Saal der Erde“, zum „Saal des Lichts“ oder zum „Tempel des Wassers“. Der „Spiegelsaal“ gilt als das Prunkstück für die damanhurianische Daseinssuche. Lichtquellen brechen sich hundertfach an den Wänden, die fast bis unter die Kuppel mit Spiegeln ausgestattet sind. Zu sphärischen Klängen wiegen sich, fast 40 Meter unter der Erdoberfläche, weiss gewandete Frauen im Gleichklang und singen, beseelt in Mimik und Gestik, von der „Macht des Mondes“ und dem „Sieg der Sonne“.

Kurz darauf scheint es nicht weiter zu gehen. Vor uns ein Wasserhahn und massiver Fels. Falco lächelt gütig, dreht an dem Hahn und wieder öffnet sich die Wand und gibt den Weg frei in eine Art Büro. Ein Schreibtisch steht da, darüber hängt eine überdimensionale Weltkarte. „Das ist unser Laboratorium“, erklärt der Meister. „Die im Berg erzeugte, feinstoffliche Energie koppeln wir mit den Energiebahnen unseres Planeten und schicken somit positive Schwingungen in viele Krisengebiete“. Auf die fast schon ketzerische Frage, warum es dann bisher nicht geklappt habe mit dem Weltfrieden, reagiert Falco nur mit einem kurzen, eiskalten Blick. Nach vier Stunden ist die Führung zu Ende. Falco verabschiedet sich, steigt in seinen Hubschrauber und fliegt davon.

Heilung unter der Trockenhaube

Auf dem Damanhur-Gelände unten im Tal stehen mehrere Menschen vor einer Sanitätsstation. Wen ein Kupferarmband nun doch nicht vor Durchfall oder Grippe schützt, der kommt hierher. Eine Deutsche lässt sich hier gerade behandeln. Sie schwört auf die „Pranotherapie“, eine Form der Geistheilung, die Falco erfunden hat. Sie sitzt auf einem Stuhl, über ihr eine alte Schreibtischlampe, die mit Kupferdraht umwickelt ist. Ein Lämpchen blinkt und die Patientin erklärt flüsternd den Vorgang: „Hier wird Prana auf mich gelenkt. Prana ist eine Lebensenergie, die hier kanalisiert und auf mich übertragen wird. Das göttliche Prana heilt alles“.

Im Zimmer nebenan eine weitere Steigerung der ungewöhnlichen Behandlung. Die Stationsärztin hantiert an einem Schaltpult. Vor ihr, in einer Kabine mit einem kleinen Fenster, sitzt ein Patient unter einem Scheinwerfer. Je nach Krankheit wird das Licht gewechselt: Gelb bei Blasenschwäche oder Blau bei Potenzbeschwerden. Dazu ertönt ein Pfeifton. Nach etwa drei Minuten ist die Behandlung abgeschlossen. Das Wartezimmer ist brechend voll. „Der Nächste, bitte“.

Der Höhepunkt der pranotherapeutischen Bemühungen findet im Keller des Eingangsgebäudes statt. Sozusagen die Abteilung für schwere Fälle. Eine Patientin liegt auf einem Bett und lässt ihre Leber nach Falcos Methode behandeln. Über ihr baumelt furchterregend eine zentnerschwere, futuristische Maschine, die entfernt an eine riesige Trockenhaube erinnert und fast völlig mit Kupferdraht umwickelt ist. Daran befestigt sind mehrere Glühbirnen in unterschiedlichen Größen.

Eine Ärztin hüpft aufgeregt durch den Raum und legt dann den Schalter um. Ein Brummton ist zu hören, die Lämpchen leuchten und flackern, die gutgläubige Patientin starrt mit weit aufgerissenen Augen auf das über ihr schwankende und rumpelnde Ungetüm. Der Patientin wird noch erklärt, dass ihr während der nächsten zwanzig Minuten per Pranotherapie ein sogenannter „Mikroattraktor“ eingepflanzt werde. Innerhalb der nächsten zwei Wochen würde dieser in ihrem Körper positiv wirken und das erkrankte Organ mit Heilkräften bestrahlen.
Natürlich hat Falco auch dieses Gerät erfunden. Damit werden in Damanhur sogar lebensbedrohliche Krankheiten behandelt wie Krebs oder Hepatitis C. Mit Erfolg selbstverständlich, die Beweise lägen der Fachwelt bereits vor und würden in Bälde der Öffentlichkeit präsentiert.

Die esoterische Geldmaschine boomt

Fast zwanzig Jahre lang haben sich die Damanhurianer buchstäblich in ihren heiligen Berg hinein gefressen. Eimer für Eimer, ohne technische Hilfsmittel. Die Öffentlichkeit hat erst Mitte der neunziger Jahre von den unterirdischen Tempelanlagen erfahren. Die Aufregung war groß, manche wollten den illegalen Bau abreissen oder gar sprengen lassen. Die Provinzregierung hat dann aber beschlossen, die Anlage zu erhalten und sie sogar zum Kunstwerk erklärt. Und die esoterischen Wühlmäuse graben untentwergt weiter. Besucher aus aller Welt ziehen nun durch die unterirdischen Tempelanlagen, lassen sich über ein Wochenende im Schnellverfahren zu Pranotherapeuten ausbilden, nehmen tief unter der Erde Kontakt zu Außerirdischen auf oder reiten, glückselig lächelnd, auf einem Pegasus Richtung Atlantis.

Damanhur verschafft der strukturschwachen Gegend enormen Zulauf und schwemmt Geld in die leeren Kassen. Doch die geschäftstüchtigen Esoteriker wollen mehr. Sie mischen sich zunehmend in die Politik ein. In manchen kleinen Gemeinden stellen sie bereits den Bürgermeister und sagen, wo es lang geht im Valchiusella. Offene Kritik gegenüber der sektenähnlichen Gruppierung wird nur selten geäußert, denn schließlich profitiert ein ganzer Landstrich vom Eso-Tourismus. Unheimlich ist den Alteingesessenen das Treiben in ihrer Nachbarschaft aber doch. In Cafes und
Restaurants unterhält man sich nur leise, wenn die Sprache auf die Damanhurianer kommt. Manche wollen gar nichts dazu sagen, denn sie haben vom Expansionsdrang der Esoteriker profitiert und ihre brachliegenden Äcker zu horrenden Preisen an die geschäftstüchtigen Traumtänzer verhökert.

Andere sind nicht gut zu sprechen auf Falcos Gemeinde: „Gefährliche Satanisten“ seien die, sagt ein Bauer. „Eine irre Sekte“, so ein weiterer, „mit der man sich aber besser nicht anlegt, denn die sind gefährlich“. Nur der Pfarrer aus dem Städtchen Castellamonte hält mit seiner Meinung seit Jahren auch öffentlich nicht hinter dem Berg. „Das ist eine Sekte. Falco gibt die Befehle und seine Leute arbeiten für ihn. Dadurch ist er ein reicher und mächtiger Mann geworden. Aber irgendwann gibt es da den grossen Knall“.

Auf dem Aussentempel in Damanhur trippelt ein junger Mann, mühevoll die Balance haltend, auf im Steinboden eingezeichneten Linien. Ein zweiter schlägt dazu in einem eigenartigen Rythmus eine dumpf klingende Trommel. Diese Art der Meditation hat Falco seinen Anhängern verordnet. Je nach Gangrichtung muss der Meditierende an verschiedene Farben denken. „Somit öffnet das Volk der Damanhurianer neue Kanäle für seine geistige Vervollkommnung“, wird uns später erklärt.

Nach einer Woche im Tal der Glückseligen verlassen wir das „Valchiusella“ Richtung Heimat. Zum Abschied wird uns noch ein skurilles Kupfergeflecht geschenkt. Angebracht an der Nähe des Lenkrads, stärke es die Konzentrationsfähigkeit des Fahrers und schütze vor Unfällen. Immerhin: auf der Rückfahrt gab nur der Keilriemen seinen grobstofflichen Geist auf. …